Der “Friedhof der Kurzgeschichten” als Steinbruch
[Fotocredit: Vanessa Riecke, Pexels]
Nicht alle Geschichten, die ich beginne, beende ich auch. Ich habe tatsächlich einen “Friedhof der Kurzgeschichten” als Unterordner meines “Anfänge und Unfertiges”-Ordners. Vielleicht verließ mich beim Schreiben der Enthusiasmus oder die anfänglich “brillante” Idee war doch nicht so dolle, oder ich hatte mich einfach übernommen mit dem Sujet. Doch “ab in die Tonne” ist keine Option. Wann immer ich etwas schreibe, überlege ich, ob ich vielleicht aus dem Fundus des Unfertigen etwas nutzen kann.
Ich nenne es “Quick Prototyping”, wenn ich eine Geschichte schreibe, mir plötzlich ein bereits fertiger aber noch nicht benutzter Text-Schnipsel in die Hände fällt und ich ihn nahezu nahtlos einfach einsetzen kann, zum Beispiel diesen hier:
Das unermessliche Waldland lag im Herzen des Kontinents. Abgesehen von den dünnen Pfaden, kaum mehr als Wildwechsel, gab es wenige befahrbare Wege. Sie verbanden die kleinen Weiler miteinander, die man trotzig in den Forst gehackt hatte.
Der Wald war düster und unheimlich. Die Bäume ragten hoch in den Himmel und schirmten das schwache Sonnenlicht ab, das wie verzweifelt versuchte, durch das Blätterdach zu dringen. Ein Dunst verschleierte alles, was sich dahinter verbarg. Der Wald selbst war eine Ansammlung endloser Schatten, der sich viele Horizonte weit erstreckte. Die Schreie der Vögel trugen nicht weit. Der Boden war von moosbedeckten Felsen und verwitterten Baumstümpfen übersät, die wie stumme Zeugen vergangener Tragödien herumlagen, eine Warnung.
Ich muss ja nicht ständig den Wald neu erfinden – dieses Waldland rockt doch bereits hinreichend.
Und manchmal wäre es einfach schade, wenn so etwas wie das Nachfolgende nie das Licht der Welt erblicken würde:
Zögerlich ging er [Nivalis] weiter. Am nächsten noch nicht in Betrieb genommenen Laternenpfahl machte er im ersten Licht des Morgengrauens eine Entdeckung. Hier hing in Augenhöhe ein Zettel aus dickem Papier, auf dem im schlampigen Großdruck »Nivalis hat Syphilis« aufgebracht worden war. Auf dem Blatt sah er verschmierte Schlieren eines nicht gewarteten Druckwerkes. Der Mann schnaubte, riss das Pamphlet ab. Der Knochenleim war frisch, das Gedruckte noch verwischbar. Er zerknüllte die Schmähschrift und warf sie über eine Mauer.
Irgendwo krakeelten Säufer.
Am nächsten Pfahl hing derselbe Zettel, auch dieser landete in der Gosse.
Ein fernes Rattern wies ihm den Weg. Nivalis legte ein paar Schritte zu. Zehn Laternen und eben so viele zerknüllte Schmähzettel später hatte er den Plakatierungsgolem eingeholt. Er roch stark nach Lehm und heißem Maschinenöl. Er war grau und grob von menschlicher Gestalt. Sein Leib hatte vorne eine große rechteckige Aussparung für ein gusseisernes Mimeographie-Druckwerk und einen Stoß unbedruckter Zettel. Soeben wurde mit einem Zischen das nächste Schmähblatt ausgedruckt. Seine Rückseite wurde von Walzen automatisch eingeleimt. Der Mann tastete in seinen Taschen herum und fand das Gesuchte. Als der Golem sich nach vorne beugte, um die Seite anzukleben, griff Nivalis die Spitzzange auf entschlossene Art und Weise. Er rammte sie dem okkulten Androiden unter die Zunge, packte zu und zerrte das Gefundene heraus. Der Golem zerfloss auf der Stelle. Das Schablonen-basierte Druckwerk setzte in dem zerfließenden Lehm wie in Zeitlupe auf dem Boden auf. Es machte ›klonk‹ und entließ heißen Dampf. Leim und Druckerschwärze rannen auf den Gehweg. Zwischen den Greifflächen der Zange steckte das Pergament mit der Erweckungsformel. Sie bestand aus den zehn Urziffern Sephiroth und dem Alphabet. Daneben fand sich ein kleiner Aufdruck: ›Aurinax-Werbung‹.
Wie alles begann: Dereinst in grauer Vorzeit (späte 90er) sollte ich für ein Fantasy-Projekt eine “Bewerbung” schreiben. Es wurde etwa eine Seite über einen Gefangenen, eingekerkert in stygischer Finsternis, der gewaltige Visionen hatte. Jahre später fiel mir das in die Hände und – schwupps! – baute ich es in meinen Roman ein, denn mein Protagonist Bombaabrabrioummug war schließlich in der gleichen Lage. Zufall?
Also, mein Tipp ist, alle Anfänge, Schnipsel, Snippets und Fragmente immer aufzubewahren, du weiß nicht, wann du sie vielleicht noch benutzen kannst. Und wenn du es durch einfaches Recycling schaffst, bei der Geschichte, die du gerade schreibst, schneller an der Passage anzukommen, auf die du richtig Lust hast, sie zu schreiben – hey! Win-Win.
Was meinst du dazu?
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